Du bist ich und ich bin du?!

Mayavada-Philosophie ad absurdum – Ein Schlüsselerlebnis im wahrsten Sinne des Wortes

| 13. August 2012 | 7 Kommentare

Gott und die Lebewesen bleiben ewig individuelle Identitäten. Sie lösen sich niemals auf oder verschmelzen zu einem homogenen Masse. # Foto © von Rachel Hory aus Singapur (http://instacanv.as/rachelhory), used with permission.

Es ist bekannt, dass die Hare-Krishna-Leute hin und wieder auf der Straße anzutreffen sind und den Menschen ihre Bücher und Zeitschriften anbieten. Vor ein paar Jahren suchte ich mir dafür einen Parkplatz vor einem riesigen Einkaufszentrum aus. Nach einer Stunde sprach ich einen jungen Mann an, so Anfang Zwanzig, der gerade aus einem riesigen nagelneuen Mercedes-Jeep herausstieg.

„Ich bin auch sehr spirituell“, sagte er und kaufte mir prompt ein Buch und ein Gour-Ni-Times-Magazin ab.

„Oh“, sagte ich und fragte ihn, was er denn genau unter ’spirituell sein‘ verstehe.

„Nun“, sagte er, „spirituelles Bewusstsein bedeutet, dass man erkennt, dass alles Eins ist“

„Alles ist Eins?“

„Ja, wir sind letztlich alle das Eine Göttliche. Wenn man dieses Bewusstsein angenommen hat, versteht man, dass diese ganzen Formen und Unterschiede, die wir in dieser Welt vorfinden, sich auflösen und zusammen in das Eine Göttliche verschmelzen. Wir sind somit alle Gott.“

„Tatsächlich?!“

„Ja, das ist die höchste spirituelle Philosophie.“

„Also du meinst, es gibt gar keinen Unterschied zwischen zum Beispiel mir und dir?“

„Nein“, sagte er geheimnisvoll, „das ist nur unsere Illusion.“

„Du scheinst von dieser Philosophie sehr überzeugt zu sein.“

„Ja“, sagte er, „es bedarf etwas Übung, aber ich bin in diesem Bewusstsein bereits tief verankert. Man erkennt dann, dass man selbst Gott ist.“

„Hmmm…“, überlegte ich, „also gemäß deiner Philosophie sind wir beide Gott, dass heißt, ich bin du und du bist ich?“

„Ganz genau!“

„Das würde bedeuten, mein Besitz wäre auch dein Besitz und umgekehrt?“

„Ja, wenn wir aus dieser Illusion erwachen, gibt es auch kein ‚mein‘ und ‚dein‘ mehr. Wir erkennen dann, dass wir alle Gott sind. Das illusorische Gefühl für Eigentum löst sich somit auf.“

„Wow, mit anderen Worten, dein Autoschlüssel ist eigentlich auch mein Autoschlüssel?“ Ich zeigte dabei unglaubwürdig auf den Autoschlüssel, den er immer noch in seiner Hand hielt.

„Konsequenterweise“, sagte er und nahm dabei einen weisen Gesichtsausdruck an.

„Du würdest mir also tatsächlich deinen Autoschlüssel geben, weil wir beide Gott sind und zwischen uns gar kein Unterschied besteht?!“, fragte ich und streckte dabei meine Hand in Richtung Autoschlüssel aus.

„Logisch!“, sagte er und er ließ tatsächlich seinen dicken Mercedes-Schlüssel in meine Hand fallen.

„Respekt“, sagte ich und steckte den Schlüssel etwas verblüfft in meine Hosentasche. Das war doch absurd, dachte ich. Aber, naja, lass mich dieses Spiel doch einfach mal mitspielen und schauen, was noch alles passiert.

Wir verabschiedeten uns. Er ging in das Einkaufszentrum und ich begann weiter über den riesigen Parkplatz zu wandeln, um hier und dort einen Passanten anzusprechen. Langsam wurde es dunkel. Den großen Mercedes-Jeep konnte ich aber immer noch gut in der Mitte des Parkplatzes erkennen. Ich wusste auch, dass dieser Wagen dort erst einmal stehen bleiben würde, denn ich hatte ja dessen Autoschlüssel.

Nach ungefähr einer Stunde hörte ich, wie sich mir jemand völlig außer Atem von hinten näherte. „Oh, endlich habe ich dich gefunden! Gott sei Dank!“

Ich drehte mich um und es war niemand anderes als der junge Mann.

„Ah, alles klar?“ fragte ich ihn und war gespannt, was er nun sagen würde.

Mit einem verlegenen Gesichtsausdruck stotterte er: „Weist du, diese Philosophie, von der ich dir erzählt hatte … Nun, das Problem ist, dass der Wagen eigentlich meinem Vater gehört und dass er leider nach einer ganz anderen Philosophie lebt.

„Das ist aber nur seine Illusion“, lachte ich und holte seinen Autoschlüssel aus der Hosentasche heraus.

Dankbar und erleichtert nahm er den Schlüssel entgegen und wir verabschiedeten uns. Er versprach mir, das Buch, welches er mir abgekauft hatte, aufmerksam zu lesen.

* * * * *

In diesem Buch namens Bhagavad-gita sagt Krishna dass sich weder Gottes noch unsere Individualität jemals auflöst. Wir bleiben ewig individuelle Lebewesen. Gott bleibt immer Gott und wir bleiben immer seine individuellen Teilchen.

na tvevaham jatu nasam
na tvam neme janadhipah
na caiva na bhavishyama
sarve vayam atah param 

„Niemals gab es eine Zeit als du oder Ich oder all diese Könige nicht existierten und ebenso wird in der Zukunft keiner von uns jemals aufhören zu sein.“ (Bg.2.12)

Foto © von Kayla Matthews, used with permission.

Die kleinen Sonnenpartikelchen in den Sonnenstrahlen sind immer von der Sonne abhängig und werden niemals zur Sonne. Trotzdem ergeben Sonnenscheibe und Sonnenstrahlen eine vollkommene Einheit. Die Sonnenpartikelchen werden mit den unendlich vielen kleinen Seelen verglichen und die Sonne mit Gott. Diese Philosophie wird acintya-bheda-abheda-tattva genannt, das „unbegreifliche Eins-und-doch-Verschieden-sein“ und wird von allen Lehrmeistern der Gaudiya-Vaishnava-Tradition als die höchste spirituelle Philosophie anerkannt. Zu dieser Tradition gehört auch die Hare-Krishna-Bewegung.

Wir, die Seelen, werden jivas genannt und wir können niemals Gott werden. Trotzdem ergeben wir zusammen mit Gott eine vollkommene Einheit, wenn wir uns in Seinem liebevollen Dienst beschäftigen. Das „Eins-sein“ der Vaishnavas besteht darin, dasselbe Interesse wie Gott zu verfolgen.

Zu denken, es gäbe keinen Unterschied zwischen Gott und dem Lebewesen, wird in der Sanskritsprache als Mayavada-Philosophie bezeichnet. Wie dieses Autoschlüssel-Erlebnis zeigt, ist sie nur ein Hirngespinst und hat keinen praktischen Wert. Sie klingt im ersten Moment beeindruckend, entpuppt sich aber später als eine Farce.

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Category: Autoren, Diverses, Krishna und die Welt, Shiva & Param

Kommentare (7)

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  1. Ralf sagt:

    Die Beweisführung würde mir nicht reichen. Im Umkehrschluss würde es nämlich heißen, dass wenn der junge Mann den Wagen nicht zurückgefordert hätte, er mit seiner Theorie Recht gehabt hätte. So einfach ist es aber nicht.

    Von Shankara gibt es eine erleuchtende Geschichte.

    Shankaracarya saß am Strand und war in tiefe Meditation versunken. Einer seiner Schüler war bei ihm. Auf einmal sagte Shankaracarya: „Ich bin in Gott, aber Gott ist nicht in mir!“
    Der Schüler wunderte sich sehr, er nahm seinen Mut zusammen und fragte Shankaracarya nach dem Grund dieser für ihm verwirrenden Aussage.

    Shankaracarya sagte: „Schau auf das Meer – die Wasserblase ist im Meer, aber das Meer ist nicht in der Wasserblase!“

    • Shiva & Param Shiva & Param sagt:

      Der Umkehrschluss fand aber nicht statt. Und bei vernünftigen Menschen wird er auch nie stattfinden. Das ist alles nur Theorie, die nicht viel mit dem echten Leben zu tun haben. Man möge einen praktischen Beweis zeigen, dass ein vernünftiger normal verdienender Mensch sein 50.000 Euro teures Auto einfach so aufgibt, um diese unsinnige Philosophie zu bekräftigen. Jeder wird ihm den Vogel zeigen.

      Was Shankaracharya in diesem Beispiel sagt, wird auch in der Bhagavad-gita bestätigt. Krishna sagt dort:

      mayā tatam idaṁ sarvaṁ
      jagad avyakta-mūrtinā
      mat-sthāni sarva-bhūtāni
      na cāhaṁ teṣv avasthitaḥ

      „In meiner unpersönlichen Form durchdringe ich das gesamte Universum. Alle Wesen befinden sich in Mir, doch ich bin nicht in ihnen.“

      Wir sind gleichzeitig eins mit und verschieden von Gott. Diese Philosophie nennt sich acintya-bheda-abheda-tattva.

      Es wird das Beispiel von einem Ozean und einem Wassertropfen gegeben. Von der Qualität gibt es keinen Unterschied zwischen dem Ozeanwasser und dem Tropfen. Aber von der Quantität besteht ein gigantischer Unterschied.

      Ebenso sind wir von der Qualität gesehen eins mit Gott, aber von der Quantität besteht ein riesiger Unterschied.

  2. Sirina sagt:

    Haribol,

    …schöner Artikel 🙂

    „Da die Unpersönlichkeitsanhänger durch das Gleißen des Brahmajyoti geblendet sind, können sie weder das Reich des Herrn noch Seine transzendentale Gestalt erkennen.“ (Zitat von Srila Prabhupada aus „Sri Isopanisad“, sechzehntes Mantra)

    Wenn die Mayavadis wenigstens schon mal den Paramatma-Aspekt verinnerlichen würden. Dann würden sie irgendwann erkennen, dass ein sehr großer Unterschied zwischen dem Paramatma (Krishna dem Lenker) und dem Atma (wir als individuelle Lebewesen und Gelenkte) besteht. Dann wären sie schon ein Schrittchen weiter, obwohl sie den Herrn wahrscheinlich immer noch nicht in seiner ganzen Persönlichkeit und Herrlichkeit erkennen würden.

    Zur kleinen Anekdote mit den Autoschlüssel:
    Eigentlich gibt es kein „Mein“ oder „Dein“. Diese ganzen Besitzansprüche entstammen meines Erachtens „Maya“, vielleicht auch speziell dem Kali Yuga. Denn alles auf dieser Welt gehört eigentlich unserem geliebten Krishna und nicht irgendwelchen einzelnen Personen. Wir sind lediglich die Nutznießer der Dinge, die uns Krishna zur Verfügung stellt und die wir in Maßen und entsprechend unseren Ansprüchen und sicherlich auch abhängig von unserer entsprechenden Stellung (Brahmane, Kshatriya, Vaisya, Sudra…)vernünftig benutzen dürfen, ohne dass dabei jemand anderer zu Schaden kommt. Unser verehrte Srila Prabhupada nannte das schon mal spirituellen Sozialismus oder gar spirituellen Kommunismus. Nichts gehört uns, alles gehört Krishna! Und da wir alle Kinder Gottes sind, dürfen wir diese Dinge in einem vernünftigen Maße nutzen. So erklärte es Srila Prabhupada.

    Alle Besitztümer, die wir in unserem Leben anhäufen, sind vergänglich. Wenn wir unseren Körper verlassen werden wir sowieso nichts von alledem mitnehmen können. Im Prinzip ist das doch eh dann alles nur Maya. Irgendwie völlig überbewertet.

    Ganz lieben Gruß
    Sirina

    Hare Krishna!

    • Shiva & Param Shiva & Param sagt:

      Ganz richtig! Für die Mayavadis gibt es kein Mein und Dein, weil nach ihrem Verständnis alles Illusion ist. Für die Vaishnavas hingegen gibt es kein Mein und Dein, weil laut Isopanisad Mantra 1 alles letzten Endes dem Höchsten Herrn gehört. Wenn man denkt, alles sei Illusion, geht man mit den Dingen viel unverantwortlicher um, als wenn man weiß, dass die Dinge nur von jemandem ausgeborgt und zur Verfügung gestellt wurden.

  3. Shiva & Param Shiva & Param sagt:

    Du bist ich und ich bin du –
    Müllers Esel, das bist du!

    • Sali sagt:

      Ganz ehrlich, das finde ich jetzt doch mehr als arrogant.

      Jeder geht seinen Weg. Und wenn einer eben anders denkt, so lass ihn. Du kannst etwas tun: ihn fragen, ob ihn deine Sicht der Welt interessiert.

      Werten … BEwerten oder gar ABwerten … bringt euch nicht weiter. Das ist herzlos. Sorry.

      Das ist einer der Gründe, weshalb ich nicht mehr in den Tempel geh: weil ich bei den Hare Krishnas immer wieder Menschen traf, die dachten, sie hätten die Weisheit mit Löffeln gefressen und sie stellten sich über andere … (Nach dem Motto: der arme Karmi) Bhakti versteh ich aber anders.

      Okay, ich habe dort auch Menschen kennen und lieben gelernt. Auf freundschaftliche Art. Sie haben mein Herz berührt, denn sie haben sich den Respekt gegenüber ihrem Nächsten bewahrt.

      Wir sind uns gegenseitig alle Lehrer und Schüler zugleich. Und wir dienen einander. Der Mann auf dem Parkplatz hat sich für euren Artikel zur Verfügung gestellt. Habt ihr ihm schon gedankt? Und für ihn gebetet, dass das geschieht, was Krishna für ihn vorgesehen hat?

      Ich schätze euch sehr, hab ich euch doch schon ganz anders erlebt!

      Ich danke euch für euer Wirken in dieser Welt. Und dass auch ihr mir schon wichtige Impulse gegeben habt. AUCH durch DIESEN Artikel. Denn dieses „Alles ist eins“ teile ich auch nicht … Und ich finde es schön, jetzt eine Stelle in der Gitta zu kennen, die mich in diesem Punkt weiterbringt. DANKE!

      Alles Liebe + Haribol

      • Shiva & Param Shiva & Param sagt:

        Die Begegnung ist bereits zehn Jahre her. Der junge Mann hat uns die Aktion keineswegs übel genommen, sondern als eine gutgemeinte Lektion aufgenommen. Manchmal lernen wir besser durch eine praktische Erfahrung. Ich bin extra auf dem Parkplatz geblieben, um auf ihn zu warten, weil ich wusste, dass er irgendwann zurückkommen würde. Hat mit Arroganz also nichts zu tun, sondern ich wollte ihn damit einen Gefallen tun, selbst zu erkennen, dass diese Philosophie kein Gramm Gehalt hat.

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