In Indien wird Gastfreundschaft noch ganz groß geschrieben. Besonders in den Dörfern. Wie groß wird an dem folgenden peinlichen Vorfall deutlich. Die folgende Kurzgeschichte beruht auf ein wahres Ereignis, welches wir vor ein paar Jahren selbst in Indien erlebt haben. In Deutschland zurück haben wir Barbara von diesem Erlebnis erzählt. Barbara, eine talentierte Schriftstellerin, hat noch ein wenig ihre Phantasie mit in die Erzählung hinein fließen lassen.

Der falsche Ram

Von Barbara Dutta

Es erschien mir immer noch wie ein Traum. Endlich war ich in Indien und saß im Vorhof des Ashrams. Hinter uns der uralte Tempel. Mein Begleiter Ashok, ein junger Deutscher, wurde in diesem Tempel zum Mönch geweiht und hatte hier seinen indischen Namen erhalten.

Der Flug nach Bombay war wie jeder andere Flug in eine ferne, unbekannte Welt gewesen, voller Spannung und Vorfreude mit den Annehmlichkeiten der modernen Welt. Im Kontrast dazu reisten wir danach weiter per Bahn, Bus und Fahrrad-Rikscha, typisch orientalisch, staubig, heiß und verwirrend bis wir endlich vor dem Eingang des Ashrams standen.

Ich stutzte, denn vier wichtige 'Gebote' waren schon am Tor angeschlagen, die aufforderten, die Schuhe vor dem Tor auszuziehen und, vor allem in der Nähe des Tempels, abslute Ruhe zu bewahren. Das Trinken von Alkohol und Rauchen war untersagt und nur rein vegetarische Nahrungsmittel durften mit auf das Gelände gebracht und verzehrt werden!

"So fängt die Disziplin im Ashram an", sagte Ashok und seine blauen Augen blitzten vor Belustigung über mein Erstaunen, obwohl mir alle vier Bedingungen sehr sympathisch waren.

Hinter dem Tor begrüßte uns eine mir völlig neue Welt, der Vorhof des Tempels. Dicht gedrängt standen hier sehr alte, knorrige Bäume, die wohl tuenden Schatten verbreiteten. Die Atmosphäre war grün, kühl und erfri schend, während es draußen knisterte vor Hitze und Staub. Sehr schnell saßen Ashok und ich barfuß unter einem riesigen, uralten Banyan-Baum mit dem Blick auf einen wunderschönen, weißen Marmortempel. Er hob sich hervor aus einem Meer von lila blühenden Rhododendron-Sträuchern und Blumen in allen Farben. Wir saßen schweigend beieinander und genossen eine umarmende Ruhe und erholsame Kühle.

"Paradies auf Erden!", seufzte ich.

"Dürfen wir in den Tempel hinein gehen?", fragte ich nach einer besinn lichen Weile. "Ich fühle mich inmitten einer Symphonie von Duft, Formen und Farben! Kannst du die Gerüche unterscheiden?"

Ich breitete die Arme aus und hätte am liebsten diese für mich neue, kleine Welt darin festgehalten. Ich steckte die Nase in die Luft, schloss die Augen und schnupperte: "Es duftet nach Blüten und Weihrauch, nach Erde und frischem Gras."

"In meine Nase ziehen vorwiegend die Düfte der indischen Küche", stellte Ashok realistisch fest und holte tief Luft: "Links von uns ist die Küche und der Speisesaal. Das Essen hält Körper und Seele zusammen. Komm, erst essen wir etwas, dann zeige ich dir den Tempel!"

"Erst essen?", fragte ich ungläubig. "Ich kann es gar nicht erwarten, den Tempel von innen zu sehen, danach mein spartanisches Lager, wie du es beschrieben hast, in Augenschein zu nehmen und mir die Hände zu waschen, und dann - - -!"

"Ach, komm!", forderte er mich auf, reckte und streckte seinen langen, schlanken Körper in die Höhe und tätschelte seinen flachen Bauch unter dem losen safranfarbigen Mönchsgewand, als ob er nach seinem Magen suchen müsse.

"Schon überzeugt", lachte ich. Angesichts eines hungrigen Mönchs kann man einfach nicht hartherzig sein.

Im Speisesaal empfing uns ein Potpourri aus Wohlgerüchen von vielerlei Gewürzen. Aromatisch dampfende Kochtöpfe standen auf Feuerstellen im hinteren Teil des Speiseraums, aus denen man sich zwar nicht selbst bedienen durfte, aber liebevoll und großzügig versorgt wurde. Wir schwelgten in der großen Auswahl von exotischen Gemüsegerichten, Reis und knusprigen Brotfladen.

"Starrt man hier Ausländer immer so an?", fragte ich Ashok und nickte leicht in die Richtung des Nebentisches. Es störte mich, dass ein junger Inder uns völlig unbefangen beobachtete.

"Immer?", wiederholte Ashok und drehte sich schmunzelnd um. Sofort fühlte sich der Fremde ermuntert, lachte fröhlich und setzte sich wie selbst verständlich an unseren Tisch: "Ich bin Ram. Die ganze Zeit überlege ich, warum ein Europäer ein indi sches Mönchsgewand trägt", erklärte er ohne Umschweife und kraulte sich dabei vielsagend sein schwarzes, üppiges Kraushaar. Ashoks Kopf war nach Tradition der indischen Mönche ganz kurz geschoren.

"Vielleicht, weil wir so gern im Ashram essen", sagte Ashok belustigt und machte die typische Handbewegung eines Inders beim Essen. Rams Augen leuchteten amüsiert. Er fand diese Begründung nicht sehr überzeugend, bestätigte jedoch, dass er auch gern hier aß und streichelte sein gerundetes Bäuchlein. Dabei lachte er so herzlich und frei heraus, dass man statt seiner Augen nur noch kleine Schlitze sah und schneeweiße Zähne aufblitzten.

 

Krishna-Balaram-Tempel (ISKCON) in Vrindavana, Indien

"Das Essen ist nicht immer so üppig hier im Ashram. Ihr habt eine beson ders gute Zeit erwischt", erzählte er. "Morgen feiern wir unser größtes Fest im Jahr, Diwali, ein Lichterfest. Inder feiern gern, dann können sie tagelang viel und gut essen - das hält Leib und Seele zusammen!"

Schon wieder dieser Satz! Meine Gedanken pendelten zwischen meinem Teller und dem prächtigen Tempel, zu den duftenden Blumen, den großen Bäumen und der herrlichen Ruhe hin und her. Ashok und Ram waren sich einig und plauderten mit gedämpften Stimmen wie alte Freunde. Doch plötzlich wurde ich stutzig.

"Bis morgen dann!", hörte ich Ram sagen. Er stand auf, verwandelte das lange weiße Tuch, das er nur um die Hüften geschlungen trug, geschickt zu einer losen Hose, indem er es einfach von vorn durch seine Beine zog und hinten in der Taille feststeckte. Dann strich er sein schneeweißes Hemd glatt und verabschiedete sich 'stadtfein' und strahlend.

"Bis morgen?", fragte ich ungläubig.

"Ja, während du geträumt hast, hat Ram uns für morgen in seine Familie zu einem typischen Diwali-Festessen eingeladen!", erklärte Ashok.

Ram wohnte im Nachbardorf, nicht weit entfernt vom Ashram, aber weit genug, um am nächsten Nachmittag in eine Fahrrad-Rikscha zu steigen. Es war fast lebensgefährlich, wie diese uns verwegen auf der Hauptstrasse durch den belebten Verkehr von Autos, Lastwagen, Ochsenkarren, Kamel wagen, Motorrädern und Fahrrädern schleuste. Fußgänger, Kühe, Affen, Hunde und Pfauen waren uns keine Bedrohung, wir saßen ja höher als sie.

"Wir wollen zu Ram Bhagwanpur!", gaben wir unserem Fahrer die Anweisung, als wir im Dorf ankamen.

Er drehte sich verblüfft um: "Was? Ram Bhagwanpur? Bhagwanpur heißt dieses Dorf, und mit dem Namen 'Ram' gibt es mehrere Männer hier."

Das war eine böse Überraschung. Wir wußten nun plötzlich gar nicht, wie wir Ram finden sollten. Es erschien uns sinnvoll, zu Fuß weiterzugehen und unseren Gastgeber zu suchen.

Mühsam fragten wir uns durch das kleine Dorf in gebrochenem Hindi so gut wir konnten. Die Dorfbewohner waren ausnahmslos freundlich und hilfsbereit. Ihre naive Neugier, die mich noch gestern erstaunte, störte mich heute schon gar nicht mehr. Das Dorf wirkte anheimelnd. Überall roch es nach Leben, nach Heu und Kühen, nach indischen Gewürzen und Holzfeuer. Die kleinen Lehmhäuschen wirkten sauber und waren adrett anzusehen. Ziem lich schnell sprach es sich herum , dass zwei Europäer einen Ram suchten, aber welchen Ram? Wir waren eine Sensation unter den Kindern, die uns alle helfen und führen wollten. Zuerst landeten wir bei einem Ram, der leider zu groß und schlank war. Sein Sohn führte uns zu einem anderen Ram, der war jedoch zu alt. Wie peinlich! Konnten wir auf diese Weise unseren Ram finden?

Dann führte uns die Kindergruppe einen schmalen holprigen Weg entlang zu dem kleinen Backsteinhaus, das weiß gekalkt und strohgedeckt war. Rechts und links von der Tür schauten zwei kleine Fenster auf die Straße. Es erschien mir wie ein fragendes Gesicht. Vor dem Eingang war die Erde feucht und festgetreten und mit gemahlenem Reis künstlerisch verziert - ein hübscher Willkommensgruß für Gäste zum Fest von Diwali. Sicher waren wir hier am richtigen Ort. Wir klopften an.

Eine junge, recht hübsche und zierliche Frau guckte überrascht, als wir nach Ram fragten. "Mein Mann ist nicht hier", murmelte sie und knotete verlegen ihr langes, schwarzes Haar im Nacken fest.

"Ihr Mann hat uns zum Essen eingeladen", erklärte Ashok, "können wir auf ihn warten?"

Sie sah entzückend aus in ihrer Verlegenheit.

"Davon weiß ich gar nichts, aber kommen Sie herein! Bitte! Er liebt Gäste, er wird sicher bald kommen!" Sie wurde zutraulicher, zupfte an ihrem roten Sari und legte das Endstück, die golddurchwirkte Borte, über ihre Schulter. Ich wunderte mich, mit wie viel Grazie sie dieses indische Gewand trug, von dem ich wußte, dass es einfach nur ein 6 m langes Stück Stoff ist, geschickt gewunden und in Falten gelegt. Sie ging vor uns ins Haus und wir folgten neugierig. Ohne Schuhe, selbstverständlich, die Frau des Hauses war auch barfuß. Ashok musste sich bücken, so niedrig war die Tür. Diese blieb zur Straße hin geöffnet, vielleicht wäre eine geschlossene Tür zu intim gewesen. Auch drinnen herrschte Festtagsstimmung. Der Fußboden war ebenfalls mit Liebe und Sorgfalt bemalt, einen kleinen Hausaltar schmückten Blumen und Kerzen und der Geruch von Sandelholz schwebte im Raum.

Rams Frau lud uns ein, auf den bunten Kissen am Boden Platz zu nehmen. Während sie im Nebenraum hantierte, lugte ein kleines Jungengesicht zaghaft um die Ecke und verschwand schnell wieder. Danach gesellte sich ein etwas älteres Mädchen zu uns, hübsch anzusehen, feingliedrig wie ihre Mama, aber längst nicht so scheu.

 

Ein Vraja-Vasi-Gentleman

"Sind Sie Engländer?", fragte sie uns keck, ganz stolz, ihre Englischkennt nisse an uns auszuprobieren. Wir nickten nur. Warum sollten wir sie enttäuschen? In Indien sind alle Europäer gleich. Aber einen im Mönchs gewand hatte sie noch nie gesehen und das machte sie uns mühevoll klar. Meine blonden Haare wollte sie gern einmal anfassen und sie fragte, ob wir mit blauen Augen genauso gut sehen, wie sie mit ihren dunkelbraunen. Unsere Unterhaltung bestand eigentlich mehr aus Lächeln und Gesten als aus Hindi und Englisch. Nur klirrende Armreifen im Hintergrund deuteten darauf hin, dass in der Küche etwas vorbereitet wurde.

"Wie kann Rams Frau uns einfach ins Haus kommen lassen, wenn sie gar nichts von uns weiß?", flüsterte ich Ashok zu.

"Europäer sind glaubwürdig und Mönche werden verehrt. Ausserdem gilt in Indien, vor allem auf dem Dorf, immer noch der alte Glaube, jeder Gast wurde von Gott geschickt, er bringt Glück und Segen ins Haus!"

Die junge Frau servierte uns köstliche Leckerbissen auf herrlich blank geputzten Messingtellern, Süßigkeiten aus Milch, Zucker und Nüssen zu bereitet, vielerlei Obst und mit Gemüse gefülltes Salzgebäck. Dazu gab es einen indischen Tee. Sie bewirtete uns sehr anmutig und lächelte beschei den und zufrieden, als wir ihr zu verstehen gaben, dass es uns vorzüglich schmeckte. Die beiden Kinder durften sich auch einige kleine Stückchen nehmen, aber es war offensichtlich, dass nur die Gäste das Privileg hatten, sich ringsherum satt zu essen. Die Situation war uns zwar etwas peinlich, aber rührend zugleich, und wir fühlten uns aufrichtig willkommen.

Beinahe hätten wir Ram vergessen, der immer noch nicht aufgetaucht war. Allmählich wurde seine Frau unruhig und schaute besorgt einige Male durch die Tür auf die Straße. Die Kinder vermissten scheinbar nichts. Unser Besuch hatte sie aufgemuntert und wurden immer lebhafter. Sie wollten uns zeigen, wie man Diwali feiert und begannen, vor dem Haus Öllämpchen in winzigenTonschalen anzuzünden und voller Stolz ein paar von ihren kostbaren Wunderkerzen abzubrennen. Mir wurde jäh bewusst, dass wir ihnen kein Geschenk mitgebracht hatten. Das beschämte mich sehr.

"Es wird spät, was kann bloß mit Ram los sein? Hoffentlich ist ihm nichts passiert!", sorgte sich Ashok plötzlich ernsthaft. "Aber wie lange können wir warten? Wir müssen den Weg zurückfinden, bevor es dunkel wird".

"Können wir jetzt einfach wieder weggehen?", fragte ich zögernd. Diese reizende Familie hatte es mir inzwischen angetan und ich mochte sie nicht allein lassen, bevor Ram sicher zuhause angekommen war. Wir fühlten uns überhaupt nicht wohl dabei, aber wenn wir vor Einbruch der Dunkelheit im Ashram sein wollten, mussten wir uns auf den Heimweg machen.

Am nächsten Nachmittag besuchte uns Ram wieder. Er war zurückhaltend. Seine Augen blieben groß und rund und sehr ernst, als er offensichtlich enttäuscht fragte:

"Was war denn gestern los? Warum seid ihr nicht gekommen?" Er fügte hinzu: "Meine Frau hatte etwas Besonderes gekocht. Wir haben den ganzen Tag auf euch gewartet!"

Wir konnten ihn nur entgeistert ansehen. "Wer ist nicht gekommen?", fragte Ashok. "Wir waren doch bei euch zu Hause, aber du warst nicht da!", versicherte er mit Nachdruck und ich konnte nur zustimmend nicken.

"Deine Frau hat uns fürstlich bewirtet und deine Kinder haben ihren Vater bestens vertreten!", erklärte ich und begann, von seiner kleinen Familie zu schwärmen.

Ram blickte uns ungläubig an und schüttelte ratlos den Kopf. Was sollte das bedeuten? Keiner von uns konnte sich einen Reim daraus machen.

Bis Ashok plötzlich sprudelnd loslachte: "Ich glaube, wir sind trotz aller Bemühungen beim falschen Ram gelandet!"

Zur Autorin: Barbara Dutta, gebürtig aus Deutschland, lebte über 40 Jahre in Indien (von 1958 bis 1998), wo sie als Sekretärin in der Deutschen Botschaft tätig war. In dieser langen Zeit hat sie das Land in seiner ganzen Vielfalt kennen gelernt. Nun lebt sie mit ihrem Mann Sunil bei Hannover und widmet sich von Zeit zu Zeit dem Schreiben. Diese Kurzgeschichte hat sie exklusiv für Gour-Ni-Times zur Verfügung gestellt.

 

 

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