Indien – Chaos, Lärm und göttliche Harmonie

Die Gournies zu Besuch in einer indischen Mädchenschule

| 9. Januar 2014 | 2 Kommentare

140109-vbn-schuleAls sich das Taxi an diesem Morgen durch Vrindavans Straßen durchkämpfte, ertappte ich mich immer wieder dabei, wie ich über die Inder zu fluchen begann: „Wieso kann man hier nicht einfach ein Verkehrsschild aufstellen, dann wüsste gleich jeder, dass man um die Baustelle nur rechts vorbeikommt? Und schon mal was von einer Baustellenabsicherung gehört? Und warum, um Himmels willen, müssen alle die Dauerhupe betätigen, wo doch jeder sehen kann, dass es einfach nicht schneller vorangeht? Ach, ihr könntet so viel von uns Deutschen lernen an Disziplin, Sauberkeit und einer gut durchdachten Organisation.“

Dann erreichten wir endlich das Schulgelände. Wir waren an diesem Morgen zu einer Abschlussfeier eingeladen worden. Ein guter Freund namens Padma Nabh Goswami bat uns an diesem Ereignis teilzunehmen. Padma Nabh Goswami ist einer der Priester des weltberühmten Radha-Ramana-Tempels und ein enger Freund der ISKCON. Gleichzeitig arbeitet er ehrenamtlich im Management einer Mädchenschule. Ich wusste nicht wirklich, was mich genau erwartete und so stieg ich genervt aus dem Taxi. Dieses Land mit dem ganzen Lärm und dem Chaos konnte einem manchmal ganz schön zu schaffen machen.

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Padma Nabh Goswami hält Rede vor Mädchenschulklassen

Doch kaum betraten wir den Campus, hörte ich einen erst leisen aber dann immer lauter werdenden melodischen Singsang, der mit seiner Harmonie und Sanftheit die gesamte Atmosphäre durchdrang, ja heiligte.

„Was ist das?“, fragte ich fasziniert. Als wir um die Ecke eines Schulgebäudes bogen, liefen wir plötzlich schnurstracks auf eine große offene Halle zu, in welcher etwa 700 indische Schülerinnen nebeneinander im Schneidersitz saßen und mit gefalteten Händen und geschlossen Augen andächtig vedische Mantras sangen. Sie waren alle in einheitlicher und äußerst sauberer Schuluniform gekleidet, das Design eine Mischung aus indischer Ästhetik und britischer Kolonialzeit. Überhaupt sahen diese jungen Mädchen, die sich im besten Alter befanden, sehr gepflegt und feierlich aus – aber nicht, was wir unter aufgestylt verstehen. Mit ihrem Singsang lobpriesen sie Lord Krishna, die höchste Persönlichkeit Gottes, und Sarasvati, die Mutter der Gelehrsamkeit.

Die besten Schulabgänger sollten heute mit einer Art Bildungsgrammy ausgezeichnet und von der Schule verabschiedet werden. Die Lehrerinnen, vielleicht 20 an der Zahl, standen verteilt an der Wandseite der Halle. Man konnte sie an den einheitlich türkisfarbenen Saris erkennen. Auch diese Frauen sahen äußerst gepflegt und attraktiv aus, dem Anlass angemessen. Und ich muss sagen, sie schienen ihre Schülerinnen gut im Griff zu haben. Keines der pubertären Mädchen war in irgendeiner Form unruhig oder aufsässig. Alle waren mit einem konzentrierten Gesichtsausdruck völlig absorbiert im Chanten der vedischen Hymnen. Sogar die Lehrerinnen konnten ohne Sorgen ihre Augen schließen.

Da wir etwas früher gekommen waren, konnte ich mir in aller Ruhe ein Bild von dieser Bildungseinrichtung machen. Ziemlich schnell stellte ich fest, dass diese Schule, was Disziplin, Sauberkeit und durchdachte Organisation betraf, alles, was ich bisher in Deutschland gesehen hatte, bei Weitem in den Schatten stellte. Es war schon fast zum Lachen, denn wie sehr hatte ich mich noch vor zehn Minuten über dieses Volk geärgert!

Wenn ich an die Abiturabschlussfeiern meiner Schule zurückdenke, oje! Es brauchte manchmal alleine eine halbe Stunde, um den Saal auch nur irgendwie ruhig zu bekommen. Alle Schüler und Schülerinnen versuchten krampfhaft ihre Individualität zum Ausdruck zu bringen, indem extravagante Frisuren oder ausgeflippte Klamotten getragen wurden. Die Mädchen waren überschminkt und aufgetakelt und die Jungs trugen fettige Haare und löchrige Hosen und verhielten sich albern und aufgedreht. Es herrschte insgesamt eine sehr körperbetonte und oberflächliche Atmosphäre. Aus irgendeiner Ecke drang der Geruch eines Joints in die Nase. Auch die Lehrer und Lehrerinnen wirkten meistens irgendwie affig und überkandidelt.

Doch nun saß ich hier irgendwo in Hindustan, genauer gesagt in Vrindavan, auf einem unbequemen Plastikstuhl und war bei einer indischen Abschlussfeier eingeladen. Was für eine Disziplin! Was für eine Ästhetik! Was für eine feierliche spirituelle Atmosphäre!

Zu dieser Abschlusszeremonie wurden auch wichtige Ehrengäste eingeladen, die mit einer Militärkapelle im Stile alter britischer Kolonialtradition empfangen wurden. Das wirkte ein wenig komisch, muss ich ehrlich sagen, hatte aber durchaus seinen Effekt. Auch diese Kapelle bestand aus uniformierten Schülerinnen. Unter den besonderen VIPs befanden sich Politiker, Schuldirektoren, die Bürgermeisterin und andere wichtige Leute.

Auch ein Sadhu, ein Sannyasi-Mönch, mit traditionell orangenfarbenen Gewändern, wurde eingeladen, um der Feier eine religiöse Note zu verleihen. Nach altem vedischen Brauch soll jede Lebensetappe – so auch die Schulzeit – eng mit Spiritualität in Verbindung gebracht werden. Seit Jahrtausenden dreht es sich in Indien nicht nur um weltliche Bildung wie Lesen, Schreiben und Rechnen, sondern auch um die Entwicklung eines guten, spirituell sensiblen Charakters.

Bevor die verschieden Ehrengäste ihre Ansprachen hielten, wurde aber erst einmal kräftig gesungen, genauer gesagt, Lieder zur Verherrlichung Krishnas, der zum Beispiel Butter gestohlen und den Govardhana-Hügel hochgehoben hat, aber auch Hymnen zu Ehren der Göttin Sarasvati, die für Gelehrsamkeit zuständig ist und deren Bildnis auf einem Altar neben der Bühne aufgestellt war. Die Texte dieser Lieder stammten alle aus den Vedischen Schriften wie der Bhagavad-gita, die vor vielen Tausenden Jahren in der Sanskritsprache verfasst wurden.

Im Anschluss wurden die VIPs mit besonderen Geschenken und rituellen Gesten gewürdigt. Dann gab es eine Reihe von Ansprachen in der Hindi-Sprache. Zusammen mit den Schülerinnen und Gästen hörten wir den Reden geduldig zu, konnten aber ehrlich gesagt nicht viel verstehen. Wenigstens hörten wir in erfrischenden Abständen immer wieder Wörter wie Krishna, Bhagavan, Radharani, Sarasvati und Vrindavan.

Der Höhepunkt der Veranstaltung bildete zweifellos ein Musical bestehend aus Tanz, Gesang und Theater. Diese Darbietungen handeln traditionsgemäß von den Spielen Krishnas, die Er vor 5000 Jahren in Vrindavan mit Seinen Geweihten vollzogen hat. Bei diesen Tänzen geht es nicht um weltliche Unterhaltung, sondern in erster Linie darum, den Zuschauer an Gott zu erinnern.

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Der „Rasa-Tanz“. Krishna hat Sich in entsprechend viele Formen erweitert, um mit jedem einzelnen Kuhhirtenmädchen separat zu tanzen. Dieser Tanz wird in vielen indischen Theaterstücken farbenprächtig nachempfunden.

Die letzte Zeremonie erinnerte mich ungewollt an ein paar Doku-Filmszenen über das Dritte Reich. Die Schülerinnen versprachen mit einem Schwur und erhobener Hand ihre Bildung ausschließlich im Dienste der Menschheit und im Einklang mit Gottes Gesetzen zu benutzen. Die Nazis haben anscheinend nicht nur das Hakenkreuz, sondern auch viele andere jahrtausendalte Zeremonien der Inder missbraucht.

Der krönende Abschluss bildete die Würdigung der Schulabgänger mit besonderen Auszeichnungen und Geschenken. Die Schulnoten wurden laut vorgelesen. Das wäre mir als Schüler peinlich gewesen.

An dieser Stelle noch mal ein großes Dankeschön an Padma Nabh Goswami, dass wir an dieser beeindruckenden Zeremonie teilnehmen durften.

130923-sp-points-out-introSrila Prabhupada, der Gründer-Acharya der Internationalen Gesellschaft für Krishna-Bewusstsein sagte einmal:

„Der Inder ist, was den materiellen Fortschritt betrifft, als ein Lahmer zu betrachten, verfügt dafür aber über spirituelle Sehkraft. Der Westler verfügt hingegen zwar über materiellen Fortschritt, ist aber blind, was spirituelle Erkenntnis betrifft. Wenn nun der Blinde, der laufen kann, den lahmen Sehenden auf die Schulter nimmt, kommen beide gut voran und können mit vereinten Kräften das Gesicht dieser Welt in kurzer Zeit zum Positiven verändern.“

His Divine Grace A.C. Bhaktivedanta Swami Prabhupada

Wir haben ein 12-minütiges Video über diese Feier gedreht. Schaut es Euch einfach mal an!

Kamera:  Madhupati Dasa, gedreht im September 2009, fast fünf Jahre später erstmalig veröffentlicht!

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Kommentare (2)

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  1. Shiva & Param Shiva & Param sagt:

    In einem Facebook-Kommentar wurden wir davor gewarnt, dass zu viel Disziplin, Uniform und Gleichschritt dazu führen kann, dass unsere Individualität ausgelöscht wird. Hier ist unsere Antwort:

    * * *

    Stimme dir insgesamt zu.

    Was die Individualität betrifft, so habe ich mich in dem Artikel wohl nicht klar genug ausgedrückt. Es war nicht so, dass ich bei den Mädchen keine Individualität feststellen konnte. Trotz Uniformen und Disziplin habe ich erstaunlich viel Individualität wahrgenommen, nur war diese nicht auf der oberflächlichen, körperlichen Ebene, wie ich sie bei westlichen Jugendlichen her kannte. In der westlichen Welt versucht man die Individualität der Seele durch Klamotten, Frisuren, Zigarettenmarken usw. Zum Ausdruck zu bringen. Das liegt daran, weil die Menschen kein wirkliches Wissen über ihre ewige spirituelle Identität haben, sondern sich so sehr mit ihrem vergänglichen Körper identifizieren. Das Resultat ist, dass sich jeder nur eine Maske aufsetzt und die wirkliche Individualität der Seele gar nicht zum Vorschein kommt.

    In Indien ist es nicht so, dass die Jugendlichen den ganzen Tag mit Uniformen herumlaufen. Sie tun es nur während der Schulzeit. Danach ziehen sich die Mädchen ihre Lieblings-Saris und -Punjabis an – und alles wird bunt. Sehr bunt.

    Ich persönlich würde auch in Deutschland sofort Schuluniform einführen (Ich weiß, politisch wieder total korrekt 🙂 ). Ich habe so oft mitbekommen, auch in meinem eigenen Leben, wie sich Schüler untereinander demütigen, weil der eine sich Lacoste leisten konnte und der andere nicht. Es muss auch mal Phasen am Tag geben, wo wir Menschen verstehen, dass wir im Kern alle gleich sind – spirituelle Seele, nicht materieller Körper. Dann hat die Seele die Möglichkeit zum Vorschein zu kommen.

    Als ich mit 17 Jahren Mönch wurde und in den Hare-Krishna-Ashram zog, dachte ich erst, oje, jetzt renne ich mit 100 Leuten in den gleichen orangenen Klamotten und der gleichen „Frisur“ herum. Wo ist denn bitte schön unsere Individualität? Bereits nach wenigen Stunden war ich verblüfft, wie man plötzlich auf ganz anderer Charaktereigenschaften der Mönchskollegen zu achten begann. Die Individualität der Seele kam viel klarer zum Vorschein.

    Die Gefahr bei Nazi- und anderen totalitären Regimen ist, dass dort meistens keine echte spirituelle Kultur vorhanden ist, wie heute noch größtenteils in Indien. Dann führen uns Uniform und Gleichschritt mit Sicherheit in eine äußerst bedenkliche Richtung. Hier stimme ich dir voll und ganz zu.

  2. Shiva & Param Shiva & Param sagt:

    Man sollte auch in Deutschland wieder verstärkt über Geschlechtertrennung an Schulen nachdenken. Die Schülerinnen und Schüler können einfach besser lernen, besonders während der Pubertät.

    Das bedeutet nicht, dass sich Jungens und Mädchen niemals begegnen sollten – das wäre das andere Extrem –, aber in gewissen Bereichen wäre eine Geschlechtertrennung mit Sicherheit vorteilhaft.

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